In Deutschland ist die Straße ein Ort der Oberlehrer und Volkserzieher. Die Speerspitze der moralisierenden Eiferer bilden die Autofahrer. Weil sie nicht dazu in der Lage sind, ihre Perspektive zu wechseln, erteilen sie Fußgängern und Radfahrern peinliche Ratschläge.
Schutzstreifen oder Mordstreifen?
Radfahrer sollen, auch wenn sie keine suizidalen Absichten verfolgen, handtuchbreite Schutzstreifen befahren, um dann ohne ausreichenden Seitenabstand überholt zu werden. Radfahrer sollen ganz weit rechts fahren, wo sie von Autotüren erfasst werden. Radfahrer sollen einen Helm tragen und, wie auch die Fußgänger, helle Kleidung; damit sie von den Motorisierten in ihren abgedunkelten Limousinen besser gesehen werden.
Verharmlosende Unfallberichte
Damit wir Dummköpfe die Predigten schneller begreifen, werden wir geduzt, angebrüllt und angehupt. Ja, die Moralapostel widmen uns viel Aufmerksamkeit. Man achtet auf uns, man hat uns im Blick – wenn wir uns falsch verhalten.
Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir den Regeln vertrauen. Dann werden wir von Autofahrern auch mal „übersehen“. Diese verharmlosende Formulierung verwenden Polizei und Medien als Standard in Unfallberichten, nachdem unschuldige Radfahrer von Autofahrern vom Diesseits ins Jenseits befördert wurden. „Übersehen“, das kann ja mal passierten. Klingt nicht so dramatisch wie „gerammt und getötet“.
Ratschläge statt Radwege
Nun könnten die Verkehrspolitiker ja auf die Idee kommen, gefährliche Stellen zu entschärfen und kindersichere Radwege anzulegen – wie in den Niederlanden oder Dänemark. Oder Tempo 30 einzuführen. Doch offenbar sind die zuständigen Damen und Herren außerstande, über solche lebensrettenden Maßnahmen auch nur nachzudenken. Stattdessen beglücken uns die deutschen Verkehrspolitiker mit neuen moralisierenden Kampagnen und Verhaltensvorschriften. Inbrünstige Zuhörer der Moralpredigten sind die talibanösen Autofahrer. Sie nehmen die Botschaften auf, um uns bei der Fahrt zum Bäcker weiterhin mit Ratschlägen zu beglücken. Vielen Dank!
Das Phänomen des rechthaberischen Autofahrers ist nicht neu. 1929 hat Kurt Tucholsky in „Der Verkehr“ das Verhalten der moralisierenden Verkehrsteilnehmer genau beschrieben:
„Der Verkehr ist in Deutschland zu einer nationalen Zwangsvorstellung geworden. Zunächst sind die deutschen Städter auf ihren Verkehr stolz. Ich habe nie ergründen können, aus welchem Grunde. Krach auf den Straßen, Staub und viele Autos sind die Begleiterscheinung eines Städtebaues, der mit den neuen Formen nicht fertig wird – wie kann man darauf stolz sein? […] Der Deutsche fährt nicht wie andere Menschen. Er fährt, um recht zu haben. „
Ich verstehe ihre Ansicht.
Andererseits schlummert eben auch in jedem Radler ein Oberlehrer mit dem Slogan wie die Bayern „Mia san Mia“.
Insofern ist dies ebenfalls ein krasses Missverhalten und ebenfalls nicht zu tolerieren.
Der Radfahrer ist natürlich weder der bessere noch der schlechtere Mensch, da gebe ich Ihnen Recht. Ich bin auch manchmal Oberlehrer und ich wurde auch schon von mal anderen Radfahrern auf mein Fehlverhalten hingewiesen, kommt aber selten vor.
Autofahrer haben aber manchmal seltsame Argumente wie „Ich zahle Steuern, ich darf das“. Seit wann kann man sich die Vorfahrt am Finanzamt erkaufen?
Jetzt fahre ich gleich 2 Kilometer innerstädtisch durch Würzburg. Meine Route: Erst über die Brücke schieben, weil dort die Gastronomie Tische auf den Radweg gestellt hat. Danach: Eine Ausweichroute zum offiziellen Radweg suchen. Letzte Woche hat mich dort ein Radwegparker auf die Autospur genötigt, und der wurde richtig böse, als ich ihn darauf aufmerksam gemacht habe. Jetzt fahre ich 500 Meter Umweg, um meine Ruhe vor Radwegparkern zu haben, aber das kann es ja auch nicht sein..