Heute in der Radkolumne: Ein Gastbeitrag von Anne Frieda Müller.
„In Russland kann niemand Fahrrad fahren!“, wollte mir meine Mutter als Kind weis machen. Jetzt habe verstanden, dass das nicht stimmt – in Russland fährt man sehr wohl Fahrrad!
Die Stadt in Russland, in der ich Fahrrad fuhr
Welikije Luki – eine kleine Stadt im Südwesten Russlands, in der Region Pskow. Bekannt ist die Stadt für ihre Fleischproduktion. Zum Beispiel in der etwa 480 Kilometer entfernten Metropole Sankt Petersburg gibts einen Verkauf mit Welikije Lukier Fleisch in gefühlt jedem Stadtbezirk. Das war aber nicht der Grund, warum ich hinfuhr und das wird auch nicht die Besonderheit sein, an die ich mich erinnern werde.
Ich fuhr hin, um eine Freundin zu besuchen. Wir haben uns anderthalb Jahre zuvor auf einer Exkursion in Sankt Petersburg kennen gelernt. Dort wohne ich jetzt für ein Jahr, sie aber seit einem halben Jahr nicht mehr. Also nix wie hin ins „echte“ Russland, zu den „echten“ Leuten und raus aus der Metropole nach Welikije Luki!
In Welikije Luki
Was ein großartiges Gefühl, nach sechs Monaten Fahrrad-Abstinenz wieder in die Pedale zu treten! Komplett straßenuntaugliches Rad, aber das ist nicht schlimm, denn die Straße ist auch nicht fahrradtauglich: „Anne! Komm von der Straße runter! wir sind hier nicht in Deutschland, Autofahrer kennen Fahrräder nicht! Sie überfahren dich!“ Die Fahrräder sind etwas gehwegtauglicher, der Gehweg aber auch nicht fahrradtauglich, aber was solls?! Hauptsache wieder den Wind in den Haaren und die Sitzbeinhöcker im Leder spüren.
Das Statussymbol Auto ist zu teuer
Die Schlaglöcher in den Straßen umfahre ich nach einiger Zeit gekonnt. Verschiedenste Hindernisse, wie Bahnübergänge, Brücken und Sandwege halten mich nicht vom Fahrradfahren ab. Im Gegenteil – so lässt sich die Gegend, die Stadt gleich viel besser erkunden und aktiver aufnehmen. Ich bekomme ein Gefühl für den Lebensgeist der Stadt. Hektik gibt es kaum, eher ein träges Trotten. Die Menschen können sich keine Autos leisten, sie müssen Radfahren. Das Statussymbol Auto ist zu teuer. Denn 2015 hat das russische Medienunternehmen RBK (РБК – RosBisnesKonsalting) einen Vergleich von 200 russischen Städten gemacht. Es ging darum, wie viel Brot sich die Einwohner*innen der Städte von ihrem monatlichen Einkommen leisten können. Welikije Luki stand auf dem dritten Platz der ärmsten Städte.1 So scheint Fahrrad fahren in vielen ländlichen und ärmeren Regionen ganz normal zu sein. Vor allem die Jugend kann sich kein Auto leisten und steigt auf Drahtesel um.
Radfahren in St. Petersburg
Hingegen in Sankt Petersburg dekorieren Fahrradwege die Straßen immer häufiger. Dekoration trifft es, denn beachtet werden sie von Autofahrern kaum. Vor allem für kurze Distanzen werden Fahrräder gerne genutzt, auch auf Gehwegen. Sie sind nicht so oft im Sankt Petersburger Verkehr vertreten, wie in deutschen Fahrradstädten wie Greifswald, wo 93 Prozent aller 10.000 Studierenden mit Rad zur Uni fahren2, aber ich sehe sie definitiv öfter als erwartet. Bei normaler Wetter- und Klimalage mit nur etwa fünf Monaten ohne Schnee und Eis, ist Sankt Petersburg aber schlussendlich einfach kein Ort zum Fahrradfahren.
„Ich würde es toll finden, auch in Russland so viele Radfahrer zu sehen.“
Das soll der ehemalige Präsident Medwedjew nach einem Aufenthalt in Kopenhagen gesagt haben. Ein Umdenken findet laut Nadezda Zherebina, der russischen Fahrrad-NGO „Let’s bike it“, zumindest schon in den beiden größten Städten des Landes statt.3 Laut der Webseite bikemap.net hat Russland 1.682.560 km Radwege.
Beliebte Radregionen
Die beliebtesten Radregionen sind die Bezirke rund um Moskau und Sankt Petersburg. In den Großstädten kostet ein Auto viel Zeit und Geld, wie überall auf der Welt auch. Da sind Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel meist einfacher zu händeln: keine Staus, keine Parkplatzsuche. Trotzdem sind Autos nicht von den russischen Straßen zu denken. In kleinen Städten sind die öffentlichen Verkehrsmittel nicht besonders gut ausgebaut. Oft, wie auch in Welikije Luki, gibt es nur ein paar wenige Sammeltaxis. Da ergibt es Sinn, ein eigenes Auto zu haben oder eben ein Fahrrad. Ich bin wirklich beeindruckt von meiner Freundin und ihrer Familie, wie sie überall mit dem Fahrrad hinfahren. Eine Fahrradtour hatte ich wirklich nicht in meinem Jahr in Russland erwartet.
1 https://www.rbc.ru/society/13/04/2015/552a6a419a79471fcb568dc8 (22.09.2020)
2 https://www.ostsee-zeitung.de/Vorpommern/Greifswald/In-Greifswald-fahren-die-meisten-Studenten-mit-dem-Fahrrad-ADFC-kritisiert-Radwege (27.08.2020)
3 https://www.mdr.de/heute-im-osten/russland-interview-zherebina-fahrrad-moskau-100.html (07.04.2020)